Bericht zum ersten Vortrag der Saison über den Schweizerischen Nationalpark

Nationalpark: Das grösste Freiluftlabor

An der ersten Veranstaltung der Kulturellen Vereinigung Bad Ragaz in der neuen Vortragsreihe

referierte Heiner Haller, Direktor des Schweizer Nationalparks über dessen Gründungsgeschichte, Zielsetzungen sowie über die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschungsarbeit.

von Hans Hidber

 

Bad Ragaz. – Für das Thema Nationalpark ist der Herbst, wo sich die Lärchen im Engadin langsam färben, gerade die richtige Zeit. Am Freitagabend fanden sich im Kursaal des Grand Resort zahlreiche Interessierte ein, um vom wohl kompetentesten Kenner dieses mit 170 km2 grössten Schutzgebietes im Alpenraum: Prof. Dr. Heinrich Haller viel Wissenswertes über dieses einzigartige, vor über 100 Jahren gegründete Werk zu erfahren. Claudia Biel, Vorstandsmitglied der Kulturellen Vereinigung, stellte den Referenten kurz vor: Er studierte Zoologie, Botanik und Geografie, ist seit gut 20 Jahren Direktor des Schweizer Nationalparks (SNP) und seit 1998 auch Dozent an der Universität Göttingen zum Thema Gebirgsökologie.

 

Ein Flaggschiff des Naturschutzes

Zum Einstieg ins Referat erläuterte Heinrich Haller das Logo des Nationalparks mit dem Vogel, den wohl die wenigsten kennen. Weder der Steinadler noch der Bartgeier, die Könige der Lüfte, kamen zu dieser Ehre, sondern der bescheidene Tannenhäher. «Er müsste eigentlich Arvenhäher heissen», meinte der Referent, denn er ernähre sich hauptsächlich von Arvensamen, sammle im Jahr bis zu 60 000 Arvenzapfen, die er an verschiedenen Orten als Nahrungsdepot verstecke. Weil ein Grossteil davon nicht mehr gefunden wird, sorgen diese Ablagen für Arven-Nachwuchs – ein kompletter ökologischer Kreislauf. Die Gründung im Jahr 1914 war eine ausgesprochene Pioniertat; Hauptinitiator war der Basler Naturforscher Paul Sarasin, dem es mit seinen hartnäckigen Bemühungen gelang, das Bundesparlament für diese Idee zu gewinnen. «Wir können stolz darauf sein, dass für den Nationalpark ein eigenes Bundegesetz erlassen wurde», so der Referent.

 

Wildnis zentraler Inhalt des SNP

Damit sich die Natur ohne menschliche Eingriffe entwickeln kann und erforschen lässt, mussten für den Besuch des Nationalparks etliche Gebote und Verbote erlassen werden, über deren Einhaltung die Parkwächter sorgen. Trotzdem gibt es den Besuchern des SNP genug Möglichkeiten, die unberührte «Wildnis» zu erleben, sofern man nicht von den markierten Wegen abweicht.

Im Schutzgebiet gedeiht eine unglaubliche Vielfalt an Flora und Fauna. Die Langzeitforschung zeigt auch die Auswirkungen der Klimaerwärmung; so hat sich der Lebensraum der Alpenschneehühner und der Schneehasen um 100 Höhenmeter nach oben verschoben. Eindrücklich waren auch die vergleichenden Fotos zur Zeit der Gründung und der Ansicht von heute. Der Bergbau am Ofenpass hinterliess grosse abgeholzte Flächen. Die Natur hat sich den Lebensraum für Pflanzen und Tiere wieder zurückgeholt, auch wenn diese Rückentwicklung viel Zeit braucht.

 

Die Natur reguliert sich selber

Ein wichtiges Forschungsziel war und ist es, herauszufinden, wie die sich selbst überlassene Schutzgebiete ohne Eingriff von Menschenhand längerfristig entwickeln. Es habe immer wieder, so der Referent, Unkenrufe gegeben, dass die Borkenkäfer ganze Wälder zerstören könnten oder Jungpflanzen durch Wildverbiss nicht aufkämen. «Diese Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet». Einiges Erstaunen löste beim Publikum die Feststellung aus, dass die Hirsche den Nationalpark als Winterquartier meiden; nur etwa 5 % des Bestandes würden dort ausharren, während die anderen 95 % vorzugsweise schneearme, gut besonnte Hänge im Vinschgau oder sonst in der Nachbarschaft als Winterquartier vorzögen. Als Fazit der vielfältigen Forschungsarbeit im Nationalpark nannte der Referent abschliessend das gewonnene Vertrauen in die Selbstregulierungskraft der Natur, wenn der ökologische Kreislauf nicht gestört wird. Dies hätte die natürliche Entwicklung der seit 100 Jahren unberührten Schutzflächen des Nationalparks gezeigt.