Geduld mit Russland ist angesagt
Peter Gysling, langjähriger Radio- und TV Korrespondent und heute freier Medienschaffender, hielt im Rahmen der Vortragsreihe der Kulturellen Vereinigung Bad Ragaz im Kursaal einen spannenden Vortrag über die Entwicklung Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion.
von Hans Hidber
Bad Ragaz. – Dass am Mittwochabend im Kursaal der letzte Stuhl herbeigeschafft werden musste, war ein deutliches Zeichen für das grosse Interesse am Vortrag des bekannten, langjährigen Moskau-Korrespondenten Peter Gysling (1950) mit dem Titel «25 Jahre nach dem Verfall der UdSSR». Ursula Wyss vom Vorstand der Kulturellen Vereinigung streifte einleitend kurz die Eckdaten des journalistischen Werdegangs des prominenten Referenten: 1986 – 1990 Deutschland-Korrespondent von Radio DRS in der hochspannenden Zeit der deutschen Wiedervereinigung, 1990 – 1994 erlebte er als Moskau-Radiokorrespondent die dramatischen letzten Jahre der Sowjetunion und ihres Zerfalls. Anschliessend arbeitete Gysling als Produzent der Tagesschau, Auslandreporter und Moderator beim Schweizer Fernsehen; ab 2008 bis 2015 wirkte er wieder als Moskau Korrespondent des SRF. Seine Reportagenreisen führten ihn regelmässig in die verschiedensten Gebiete des ehemaligen Riesenreiches der Sowjetunion.
Manchmal kommt es anders
«Passiert einmal etwas Besonderes und selbst für Insider Überraschendes, werden in den Medien postwendend schon am Tag darauf Analysen und Erklärungen verbreitet», so der Referent. Dabei gehen auch für Unvorhergesehenes Entwicklungen voraus, die nur durch langes Beobachten erkennbar waren. Wer hätte mit dem raschen Fall der Berlinermauer oder auch mit dem Zerfall der Sowjetunion im Eiltempo gerechnet? Im Nachhinein hatten es natürlich alle «Experten» geahnt oder gewusst. Aus gewissen Situationen, Handlungen oder Ereignissen voreilige Schlüsse zu ziehen, habe sich in der Vergangenheit schon oft als falsch erwiesen, ganz nach dem Motto «Manchmal kommt es anders, als man denkt.» Der Referent hat Jelzin, Gorbatschow und dann auch Putin mit ihren verschiedenen Charakteren aus nächster Nähe erlebt. Wer kommt einmal nach Putin, und wie prägt sein Nachfolger das Weltgeschehen mit? Niemand kann es wissen, so wenig wie kaum jemand damit rechnete, dass in den USA ein Typ wie Trump Präsident würde.
Das Erbe der Sowjetunion
Eine vom Referenten kommentierte grosse Landkarte zeigte, welche riesigen Dimensionen das autoritär und im Einparteiensystem regierte Imperium der UdSSR mit den 15 Unionsrepubliken aufwies. Die etwas hastige Einführung der freien Marktwirtschaft durch die weitgehende Privatisierung der Staatsbetriebe brachte indessen nicht den erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung. Aus den grossen Kolchosen entstanden viele Kleinbauernbetriebe, denen es an technischen Geräten mangelt; ausserdem waren die Kolchose-Angestellten auf irgendeinen Spezialbereich getrimmt und nicht «Generalisten» eines ganzheitlichen Landwirtschaftsbetriebes wie etwa in der Schweiz. Von der Privatisierung profitierten nur wenige, ohnehin schon bisher Bessergestellte, die sich lukrative Staatsbetriebe vor allem im Energiebereich (Öl und Gas) unter die Nägel rissen und als «Oligarchen» zu unermesslichem Reichtum kamen. Dann gibt es über 100 sogenannte «Monostädte» mit riesigen, aber völlig einseitigen, meist maroden oder stillgelegten Industriekomplexen mit unzähligen Arbeitslosen ohne Perspektiven.
Hoffnung auf die junge Generation
Der Referent ging näher auf die Hintergründe der Konflikte mit der Ukraine sowie die Annexion der Krim ein. Bezüglich das Leben in Russland heute wies Gysling auf die Diskrepanz zwischen den Grossstädten und den ländlichen Gegenden hin. «In den Grossstädten wie Moskau, St. Petersburg und anderen herrscht pulsierendes Leben mit 24 Stunden und 7 Tagen geöffneten Geschäften, Leuchtreklamen in allen Farben und Unterhaltungslokalen jeder Art.». Aber ausserhalb dieser Städte habe sich das triste Umfeld kaum geändert. Fehlende Diversifizierung, Ölpreis im Keller, Kosten des Engagements in der Ukraine, Beamten- und Justizwillkür, die EU-Sanktionen und die Korruption nannte der Referent als Gründe für die wohl noch etliche Jahre andauernde wirtschaftliche Stagnation. Eine Hoffnung ist die junge Generation: «Sie ist gut ausgebildet, weltoffen und steht für bisher unterbliebene Modernisierungen.» Es gebe deshalb durchaus auch positive Perspektiven für die Zukunft – nur müsse man dazu die nötige Geduld aufbringen.