Bonnie & Clyde der Kunst
An einem weiteren Anlass der Kulturellen Vereinigung Bad Ragaz berichtete Dr. Yvonne Lehnherr, Fribourg, im Kursaal des Grand Resorts über Leben und Werk des avantgardistischen Künstlerpaars Jean Tinguely und Niki de St. Phalle.
von Hans Hidber
Bad Ragaz. – Ursula Wyss von der Kulturellen Vereinigung stellte die Referentin kurz vor: Dr. Yvonne Lehnherr ist Kunsthistorikerin und leitete vor ihrer Pensionierung während fast drei Jahrzehnten das Freiburger Museum für Kunst und Geschichte. Sie kannte das Künstlerpaar Jean Tinguely und Niki de St. Phalle persönlich und gilt als wohl beste Kennerin der recht aufregenden Lebensgeschichte der beiden, die auch schon als «Bonnie & Clyde der Kunst» bezeichnet wurden. Doch anders als das berühmte Gangsterpaar, das durch ihre kriminelle Energie mit Einbrüchen und Morden zusammengeschweisst wurde, ist es bei Tinguely und Niki de St. Phalle die gemeinsame Faszination der provokativen, avantgardistischen und für die Zeit der frühen Sechzigerjahre geradezu revolutionären Kunst, die das Paar trotz verschiedener Beziehungskrisen zusammenhielt.
Über die Dekoration zur Kunst
Die Referentin begann ihre Ausführungen mit einigen biografischen Angaben der beiden Kunstschaffenden, deren zum Teil monumentalen Werke an verschiedenen Orten unübersehbar und dank der soliden Konstruktion noch Jahrhunderte überdauern könnten, sofern sie nicht gewaltsam entfernt werden. Jean Tinguely wurde am 22. Mai 1925 in Fribourg geboren; im gleichen Jahr zog die Familie nach Basel, wo Tinguely aufwuchs und 1941 beim Warenhaus Globus eine Lehre als Dekorateur begann. Sein «undiszipliniertes Verhalten» führte 1943 zur fristlosen Kündigung. Seine schon früh entwickelten eigenwilligen Ansichten passten wohl nicht zur bieder-langweiligen Dekorationskunst der damaligen Zeit. Seinen Lehrabschluss machte er dann 1944 beim unabhängigen Dekorateur Joos Hutter, der ihn zum Besuch der Kunstgewerbeschule Basel animierte. Dort setzte sich Tinguely erstmals mit der modernen Kunst auseinander. Ab 1945 betätigte er sich als freischaffender Dekorateur, schuf seine ersten plastischen Werke aus Draht und wurde mit seinen völlig unkonventionellen Kreationen zum Schrecken der damaligen Kunstszene.
Auf Anhieb verliebt
Niki de St. Phalle wurde am 29. Oktober 1930 in einem Pariser Vorort geboren; die Familie zog dann nach New York, wo sich der Vater als Börsenmakler betätigte und beim Börsenkrach sein ganzes Vermögen verlor. Niki wuchs hauptsächlich in den USA auf und kehrte 1952 nach Paris zurück, wo sie zunächst als Aktionskünstlerin arbeitete, ihre ersten Gemälde schuf. Als sie 1955 Jean Tinguely in seinem Atelier besuchte, war sie fasziniert vom «Schrotthaufen mit den wunderbaren Schätzen», aber nicht nur von diesen, sondern auch vom attraktiven Künstler selber, in den sie sich auf Anhieb verliebte. Tinguely war alles andere als ein Monogamist und verströmte eine Aura, die Frauen magisch anzuziehen schien. Die beiden wurden ein Paar und arbeiteten, zum Teil in unterschiedlicher Kunstausrichtung, zum Teil in gemeinsamen Projekten eng zusammen. Trotz der Beziehungskrisen und zeitweiligen Trennungen wegen Tinguelys Frauengeschichten heiratete das Paar 1971. Künstlerisch erregte Niki vor allem mit ihren voluminösen, tanzenden «Nanas» grosses Aufsehen.
Bleibende Werke
Mit der Aufzählung der zahlreichen Kunstobjekte und Ausstellungen von Jean Tinguely und Niki de St. Phalle könnte man Seiten füllen. Mit seinen kinetischen Kunstwerken zählt Tinguely zu den wichtigen Wegbereitern der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beispielhaft sind die aus Schrottgegenständen konstruierten, skurrilen Maschinen voll liebenswerter Poesie mit viel Räderwerk und Betriebsamkeit lauter Leerlauf produzieren. Ob Tinguely dabei an die bedeutend langsamer mahlenden Mühlen der Bürokratie gedacht hat? Und ein Kunstwerk von Niki de St. Phalle wird täglich von Tausenden beachtet: Ihr seit 1997 in der grossen Halle des Zürcher HB schwebende, riesige «Schutzengel». Jean Tinguely starb am 30. August 1991. An seiner Beerdigung in Fribourg nahmen über 10 000 Personen teil. Das Lebenslicht von Niki de St. Phalle erlosch am 21. Mai 2002 in San Diego, wohin sie sich aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen hatte.